Positive Eigenschaften, Talente und Begabungen

Es ist unbestritten: Das Asperger-Syndrom geht mit zahlreichen Einschränkungen und Schwächen einher und wird vielfach als äusserst beeinträchtigend erlebt. Der Leidensdruck kann dabei sehr hoch sein. Das sollte man nicht kleinreden. Das Asperger-Syndrom bereitet vielen Betroffenen grosse Schwierigkeiten. Ein Teil dieser Schwierigkeiten wurzelt aber nicht in den Besonderheiten selbst, die mit dem Asperger-Syndrom einhergehen, sondern vielmehr in der Herausforderung, in einer Welt bestehen zu müssen, die sich ganz am Fähigkeitsprofil einer nicht autistischen Mehrheit orientiert. (10)

  • Intellektuelle Stärke: Menschen mit Asperger sind entsprechend der Diagnose-Kriterien durchschnittlich oder überdurchschnittlich intelligent. Was vielen Betrofffenen gemein ist, ist eine sachlich analytische Art des Denkens, ein klarer Verstand. Menschen mit Asperger lassen sich in ihrem Denken weniger von sozialen Erwägungen als von sachlichen Argumenten leiten. Ihre Denkweise ist daher logischer und weniger voreingenommen als bei nicht autistichen Menschen. Verglichen mit gleich intelligenten Nicht Autisten sind Asperger auch besser in der Lage, logische Schlussfolgerungen zu ziehen. Der typische Denkstil des Asperger-Syndroms ist eher systematisierend und evidenzbasiert. Diese Art zu Denken gilt allgemein als «männliche» Denkweise und ein Grund für die «Male Brain Theory of Autism». Es ist zudem eine Art des Denkens, wie sie in der Wissenschaft üblich ist. Es geht darum, Fakten systematisch einzuordnen und Zusammenhänge logisch analytisch zu entschlüsseln. (11)
  • Aufmerksamkeit fürs Detail: Es ist die vielleicht jene Stärke, die allgemein am bekanntesten ist. Firmen suchen aus diesem Grund sogar nach autistische Mitarbeitern, weil sie den nicht autistischen Kollegen in diesem Punkt oft weit überlegen sind: in der Fähigkeit, Details wahrzunehmen, Fehler zu entdecken, Muster zu erkennen. Die hohe Konzentrationsgabe, gepaart mit Genauigkeit und einer überdurchschnittlichen visuellen Wahrnehmung, macht die Mitarbeiter mit Asperger dabei so wertvoll. Eine Liebe zum Detail ist aber nicht nur bei der Fehlererkennung wichtig. Auch neue Zusammenhänge erschliessen sich oft erst durch den Blick aufs Detail. In Kombination mit ihrer logisch analytischen Denkweise können Asperger so zuweilen Verbindungen herstellen, die anderen niemals aufgefallen wären. Doch keine Fähigkeit, die nicht auch Nachteile mit sich bringt. Sich zu sehr auf Einzelheiten zu konzentrieren, kann den Blick aufs Ganze verdecken. (12)
  • Konzentrationsfähigkeit: Die hohe Konzentrationsgabe wird oft leider nicht als solche wertgeschätzt, sondern mit «Hyperfokus» als «krankhaft übertrieben» beschrieben. Dabei ist sie eine Gabe, die manche Schwäche des Asperger-Syndroms zu kompensieren hilft. So haben Menschen mit Asperger oft Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit auf Dinge zu lenken, die sie nicht interessieren. Schüler schieben ihre Schularbeiten vor sich her und lernen den erforderlichen Stoff nicht; Aufgaben im Job bleiben viel zu lange liegen. Die Fähigkeit des Hyperfokus kann helfen, dieses Aufmerksamkeitsdefizit zumindest teilweise wieder wettzumachen und das Versäumte nachzuholen. Der Hyperfokus kann aber auch zum Problem werden. Vor allem dann, wenn die Konzentration auf ein bestimmtes Thema jede andere Aktivität verdrängt und so ihren Anteil am beschriebenen Aufmerksamkeitsdefizit hat. Man kann sich wohl kaum zu viel konzentrieren, aber man kann sich allenfalls auf das Falsche konzentrieren. (13)
  • Begeisterungsfähigkeit und Ausdauer: Ein grosser Vorteil, Asperger zu haben, ist die enorme Begeisterungsfähigkeit. Ist ein Asperger an einer Sache wirklich interessiert, gibt es keine halben Sachen. Das gilt vorallem, aber nicht nur für die Spezialinteressen, die ja zu den Diagnosekriterien zählen. Asperger-Betroffene setzen sich oftmals intensiv mit einer Thematik auseinander. Sie zeichnen sich nicht nur durch eine hohe intrinsische Motivation aus, sobald sie an einer Sache interessiert sind. Auch ihre Hartnäckigkeit kann beachtlich sein, ein Umstand, der sich gerade mit Fehlschlägen bezahlt machen kann. Gibt es Probleme, suchen sie oft beharrlich und ausdauernd nach einer Lösung. Auch dann noch, wenn andere längst aufgegeben haben. (14)
  • Visuelle Wahrnehmung: Die kognitiven Stärken des Asperger-Syndroms fussen zum Teil auf ienem aussergewöhnlichen visuellen Wahrnehmungsvermögen. So setzt etwa die für Asperger typische Aufmerksamkeit fürs Detail eine entsprechende Wahrnehmung voraus. Autistische Menschen scheinen visuelle Informationen tatsächlich etwas anders zu verarbeiten als Nicht-Autisten. Abgesehen von einer höheren Sehschärfe sind autistische Menschen zudem weniger anfällig dafür, sich von Vorannahmen täuschen zu lassen. Es ist eine allgemein menschliche Eigenschaft, dass wir nicht notwenigerweise das sehen, was wirklich da ist, sondern vielmehr das, was wir erwarten zu sehen. Menschen im Autismus-Spektrum sind weniger anfällig für diese Wahrnehmungsverzerrung, wenn auch nicht immun dagegen. (15)
  • Ausgeprägte Interessen: Im diagnostischen Handbuch ist von «ungewöhnlich starkem, sehr speziellen Interesse» die Rede. Menschen mit Asperger können sich für einzelne Themen begeistern. Die Faszination kann so gross sein, das sie darüber mitunter alles andere vergessen. Erst die Begeisterung für ein Thema verursacht, dass sich Asperger so intensiv damit beschäftigen und dass sie sich dadurch oft ausserordentliches Wissen und Expertise aneignen. Die Interessen können sich allerdings im Laufe des Lebens wandeln. Oft bestehen mehrere Interessen parallel. Es ist dabei ein Vorurteil, dass die Art der Interessen ungewöhnlich ist. Ein Nachteil dieser intensiven Interessen besteht in der Ausschliesslichkeit. Ist ein Asperger im persönlichen Interesse versunken, vergisst er alles um sich herum. Dazu gehören leider auch die wichtigen Aufgaben, die dann unerledigt bleiben. Das Glücksgefühl, da mit der Beschäftigung, sich neues Wissen anzueignen, machen diesen Nachteil oftmals aber mehr als wett. Sich mit den Interessen zu beschäftigen, bildet zudem ein Schutzfunktion. (16)
  • Non-Konformismus: Eine logische analytische Art zu denken, kombiniert mit einer gering ausgeprägten Rücksicht auf soziale Erwartungen – Menschen mit Asperger bemerken die sozialen Zwischentöne meist nicht oder nur ungenügend – kann dazu führen, leicht anzuecken. Sie birgt aber das Potenzial, Probleme aus einem unabhängigen, neuen Blickwinkel zu betrachten. Daraus können dann neuartige, unkonventionelle Lösungsansätze erwachsen. (17)

Positive Charaktereigenschaften

Menschen mit Autismus und Asperger zeichnen sich durch mehrere, positive Charaktereigenschaften aus.

Dies sind unter anderem:

  • Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Integrität
  • Zuverlässigkeit und Gewissenhaftigkeit
  • Loyalität, Gerechtigkeit und Toleranz

Es gibt noch eine Reihe weiterer Vorzüge, die oft mit dem Asperger-Syndrom einhergehen. Dazu gehört eine hohe Arbeitsmoral. Menschen mit Asperger schätzen zudem Struktur und Ordnung, sie führen gerne ernsthafte Gespräche und vergeuden ungern Zeit mit belanglosem Small Talk.

Es gibt aber auch noch Stärken, die erst auf den zweiten Blick als solche erkennbar sind. Der erwähnte Non-Konformismus gehört sicher dazu. Eine weitere verdeckte Stärke ist das «Stimming». «Stimming» steht für selbst stimulierendes Verhalten. Im Diagnosehandbuch ist es unter der Bezeichung «stereotype und repetitive motorische Manierismen» zu finden und zählt zu den Kernsymptomen des Autimus-Spektrums. Diese Verhaltensweisen umfassen repetitive Bewegungen wie, um nur drei Beispiele zu nennen, wippen, schaukeln oder sich im Kreis drehen. Von aussen betrachtet, sind diese Verhaltensmuster Bewegungen ohne Sinn und Zweck. «Stimming» ist allerdings alles andere als sinnlos. Es ist eine Art Erregungsregler, der hilft, Aufregung, Angst und Nervosität zu beruhigen und zu dämpfen. Er kann aber genauso gut euphorisierend wirken oder konzentrationssteigernd. (18)

Referenzen:
(10) Asperger als Chance, Huber S., 2023, Thieme Verlag: 45
(11) Asperger als Chance, Huber S., 2023, Thieme Verlag: 49
(12) Asperger als Chance, Huber S., 2023, Thieme Verlag: 50-51
(13) Asperger als Chance, Huber S., 2023, Thieme Verlag: 51
(14) Asperger als Chance, Huber S., 2023, Thieme Verlag: 52
(15) Asperger als Chance, Huber S., 2023, Thieme Verlag: 52-53
(16) Asperger als Chance, Huber S., 2023, Thieme Verlag: 54
(17) Asperger als Chance, Huber S., 2023, Thieme Verlag: 55
(18) Asperger als Chance, Huber S., 2023, Thieme Verlag: 56-60

Hinweis:
Dieser Beitrag besteht aus zwei Teilen. Sie finden direkten Zugang via folgendem Link:
Asperger – Teil I
Asperger – Teil II

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