Die Polyvagal-Theorie kann bei Problemen im sozialen Kontakt, bei starkem Stressempfinden, Erschöpfung, Burnout, Depression und Traumata hilfreiche Unterstützung und eine neue Betrachtungsweise bieten kann. Drei Organisationsprinzipien bilden das Zentrum der Polyvagal-Theorie:

Hierarchie: Das Autonome Nervensystem (ANS) reagiert auf Empfindungen im Körper über Signale aus der Umgebung und nutzt dabei drei Reaktionspfade. Diese werden in einer bestimmten Reihenfolge aktiviert und reagieren auf Herausforderungen vorhersehbar. Die drei Pfade (und ihre Reaktionsmuster) sind – in der Reihenfolge ihrer Entwicklung, vom ältesten bis zum neuesten – der dorsale Vagus (der eine Immobilisierung einleitet), das Sympathische Nervensystem (SNS – das mobilisierend wirkt) und der ventrale Vagus (der soziale Aktivitäten fördert und verbindend wirkt).

Neurozeption: Diesen Begriff prägte Dr. Porges für die Reaktionen des ANS auf Signale für Sicherheit, Gefahr und Lebensgefahr, die aus dem Körper und aus der Umgebung stammen und durch unsere Kontakte zu anderen Menschen hervorgerufen werden. Anders als bei der Perzeption (Wahrnehmung) handelt es sich bei der Neurozeption um ein „Erkennen ohne Gewahrsein“, ein subkortikales Erleben, das tief unterhalb des bewussten Denkens stattfindet.

Co-Regulation: Die Polyvagal-Theorie versteht Co-Regulation als einen biologischen Imperativ; als ein Bedürfnis, das zwingend erfüllt werden muss, um das Leben zu erhalten. Aufgrund der reziproken Regulation unserer autonomen Zustände fühlen wir uns sicher genug, um uns auf Verbundenheit einzulassen und vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen.

Wir können das ANS als die Grundlage unserers Erlebens verstehen. Diese biologische Ressource ist die neuronale Plattform, die allem, was wir erleben, zugrunde liegt. Wie wir uns durch die Welt bewegen – ganz gleich, ob wir uns anderen zuwenden, uns von ihnen abwenden, ob wir zuweilen Kontakt suchen oder uns in anderen Fällen isolieren – wird vom ANS gesteuert. Unterstützt durch Co-regulierte Beziehungen, entwickeln wir Resilienz. In von Erlebnissen der Fehleinstimmung geprägten Beziehungen «lernt» das ANS etwas über die Welt und wird dazu gebracht, Gewohnheiten der Verbundenheit oder der Schutzsuche zu entwickeln.

Die polyvagale Perspektive macht uns klar, dass Handlungen automatisch erfolgen, adaptiv zu verstehen sind und vom ANS tief unter dem Radar des Bewusstseins initiiert werden. Nicht das Gehirn trifft eine kognitiv fundierte Entscheidung, sondern autonome Energien bewegen sich in auf Schutz zielenden Mustern. Ein Funktionsprinzip des ANS lautet: «Jede Reaktion ist eine Handlung im Dienste des Überlebens. «Ganz gleich, wie unpassend eine Handlung von aussen wirken mag, aus autonomer Perspektive ist sie immer eine adaptive überlebenssichernde Reaktion. Das ANS urteilt nicht über Gut und Böse; es versucht nur, Gefahren einzugrenzen und Sicherheit zu suchen. Und aufgrund dieses neuartigen Gewahrseins öffnet sich die Tür zum Mitgefühl.

Wenn wir uns nicht sicher fühlen, befinden wir uns permanent in einem Zustand der Defensivität, und wir urteilen unablässig. Ein ventral-vagaler Zustand und eine Neurozeption von Sicherheit bringen die Möglichkeit der Entstehung von Verbundenheit, Neugier und Veränderung mit sich. Ein von der polyvagalen Sicht geprägtes Verständnis therapeutischer Arbeit orientiert sich an den 4 R:
• Erkennen (recognize) des autonomen Zustandes
• Respektieren der adaptiven überlebenssichernden Reaktion
• Regulieren oder co-regulieren in einen ventral-vagalen Zustand hinein
• Neufassung der Geschichte (re-story)

Das Grundwissen des ANS lässt sich in ein alltagstaugliches Modell übersetzen, in dem wir und das ANS als eine Leiter vorstellen. Wie verändert es unser Erleben, wenn wir auf dieser Leiter aufwärts und abwärts steigen? Was führt dazu, dass wir uns auf der Leiter auf- und abwärts bewegen? Was haben wir für Methoden und Hilfsmittel für die autonome Steuerung?

Ein wichtiges Konzept der Polyvagal-Theroie ist das der Vagusbremse. Eine Aufgabe des ventralen Vagus ist die Stabilisierung der Herzfrequenz bei ca. 72. Schlägen pro Minute. Möglich ist dies durch die Beeinflussung unseres natürlichen Schrittmachers, des Sinusknotens. Ohne die Stabilisierung schlüge das Herz gefährlich schnell. Die Polyvagal-Theorie bezeichnet diesen Stabilisierungsprozess als «Vagusbremse».
Das Erleben von Wachsamkeit und das von Gefahr haben ihren Ursprung in verschiedenen Teilen des autonomen Systems. Ist die Vagusbremse teilweise gelöst, bereitet der ventrale Vagus unseren Körper darauf vor zu handeln und ermöglicht dadurch einen stärkeren Zufluss sympathischer Energie, hemmt aber gleichzeitig die Ausschüttung von Kortisol und Adrenalin. Bei Gefahr hingegen wird die Vagusbremse vollständig gelöst, und das SNS übernimmt die Führung, leitet die Ausschüttung von Kortisol und Adrenalin ein und macht so eine Kampf-oder-Flucht-Reaktion möglich. Wir benötigen die Fähigkeit der Vagusbremse, sich zu entspannen und wieder aktiv zu werden, im normalen Tagesablauf. Die Vagusbremse leitet uns sehr wichtige Dienste, wenn wir schnell die Herzfrequenz erhöhen oder senken, den autonomen Tonus verändern und bei alldem die Steuerung durch den ventralen Vagus aufrecht erhalten wollen. Funktioniert die Vagusbremse gut, vermag sie die genannten Veränderungen mit einer gewissen Leichtigkeit zu vollziehen. Die Fähigkeit zur schnellen Regulierung und zu leichten Wechseln wird durch traumatische Erlebnisse beeinträchtigt. Verfällt eine Person schnell in einen Zustand der Dysregulation und wird in eine Überlebensreaktion versetzt, hat er in der Kindheit oft keine Co-Regulation erlebt, die er gebraucht hätte, um seine Vagusbremse ausreichend zu trainieren. Die Fähigkeit zur Co-Regulation kann nachträglich trainiert werden.

Die Vagusbremse soll durch ihre Lösung und Reaktivierung auf Herausforderungen reagieren und gleichzeitig die Regulation des ventralen Vagus erhalten. Ist die autonome Herausforderung behoben, erholt sich die Vagusbremse, tritt wieder in Aktion und versetzt das System zurück in einen Zustand der Balance. Dieses Muster wiederholt sich im Laufe des Tages sehr oft, wenn wir für die zahlreichen und oft einander widersprechenden Bedürfnisse, die mit beruflichen und familiären Verpflichtungen zusammenhängen, Energie zu mobilisieren versuchen.

Dementsprechend nachvollziehbar scheint, dass eine erschwerte oder nicht erlernte Co-Regulation zu einer Überbelastung im Erleben und Steuern des ANS führen kann, was zu Erschöpfung, Niedergeschlagenheit, Rückzug, Depression und Burnout führen kann.

(Quelle: Die Polyvagal-Theorie in der Therapie -DEB DANA, Der Selbstheilungsnerv – Stanley Rosenberg)

de_CHGerman

Bleiben Sie in Kontakt!

Durch die Anmeldung zum Newsletter erhalten Sie Updates von Triflect GmbH. Die Abmeldung ist jederzeit per Link möglich.

Die Anmeldung war erfolgreich!

Share This

Share This

Share this post with your friends!