AD(H)S äussert sich bei Mädchen und Frauen anders als bei Jungen und Männer. Deshalb bleibt es in der Kindheit oft unerkannt und die betroffenen Frauen wissen meist bis ins hohe Erwachsenalter nicht, dass sie von ADHS betroffen sind.
Das Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts-)Syndrom, kurz AD(H)S genannt, ist bereit in der Kindheit vorhanden und beobachtbar. So können Mädchen sich z.B. total in eine Traumwelt zurückziehen, sind oft unaufmerksam, und ganz in ihren Gedanken versunken. Ihre Konzentration und der Fokus auf das für Erwachsene scheinbar Wesentliche im Leben ist generell erschwert und das Verarbeitungs- um Umsetzungstempo in Alltagssituationen ist langsamer als bei anderen Kindern. Die Symptome und Auffälligkeiten können je nach Tagesform und Tageszeit stark variieren und auch die Ausprägung des AD(H)S -Spektrums ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Daher spricht man auf von einem AD(H)S -Spektrum, welches sich im Laufe des Lebens auch wieder verändern kann.
Die betreffende Person merkt im Kindesalter jedoch selten etwas von ihrer Andersartigkeit, denn sie kennt ja nur diese eine Perspektive. Häufig sind aber Konzentrationsprobleme oder schlechte Schulnoten sowie ein hoher Bedarf an Unterhaltungsprogramm und Abwechslung auffallend. Dies kann für Eltern sehr ermüdend und anspruchsvoll sein. Andererseits gibt es Momente, ich denen das betroffene Kind sich so richtig in etwas vertiefen kann und kreatives Arbeiten und Denken ohne Probleme funktionieren. Dann wird das hohe Potential, welches im Individuum schlummert, erst richtig erahnbar und ggf. sichtbar.
Mit dem Älter werden eigenen sich ADHS-Betroffene oft sehr clevere Ausgleich- und Kompensationsstrategien an, mit denen sie den Alltag und das Leben einfacher meistern können. Mit zunehmendem Alter wird es somit umso schwerer, eine mögliche AD(H)S -Diagnose zustellen. Allerdings bleiben Herausforderungen in den Bereichen Konzentration (Organisation, Chaos (gedanklich, emotional und/oder sachbezogen), Informationsaufnahme, Vereinfachung, erfolgreiches Lernen, etc.), Hyperaktivität (Erholung, (innere oder äussere) Unruhe, Umgang mit Stress, Reizüberflutung, Hochsensibilität, hohe Risikobereitschaft, Offenheit im Austausch, Affekthandlungen, etc.) bestehen und variieren je nach Schlaf, Erholungsniveau, Aufenthaltsort, Umfeld (beruflich/privat) und Tageszeit.
Zudem kann es sein, dass eine Person mit AD(H)S zu sehr viel mehr Risiko bereit ist im Leben, sei dies in Beziehung, im Sport, aber auch im Austausch mit anderen. Auch ist auszeichnend, dass Menschen mit ADHS sehr oft sehr offen, ehrlich und direkt interagieren und so je nach Situation sich selbst zu schnell öffnen oder andere damit vor den Kopf stossen.
Unterstimulation ist ein ernst zu nehmendes Thema bei AD(H)S. Dabei gibt es dysfunktionale und funktionale Stimulationsstrategien:
Dysfunktionale Stimulationsstrategien:
Andere provozieren; einen Streit anzetteln; zu schnell Auto oder Fahrrad fahren; rote Ampel ignorieren; den Unterricht stören; Drogen nehmen; fremde Personen «anrempeln»; Strassenbahnsurfen, klauen, am Abgrund balancieren; fremdgehen; ständiger (ungewollter) Partnerwechsel; Glücksspiel; einen Riesenbestellung beim Online-Versand aufgeben; ständiger (ungewollter) Arbeitsplatzwechsel; etc.
Funktionale Stimulationsstrategien:
Beim Fernsehen stricken; Sport machen; Fallschirm springen; kalt duschen; Haare färben; ein Referat halten; etwas Scharfes essen; einen anderen Weg nehmen; einen Comic beim Zuhören malen; laut singen; einen intensiven Duft riechen; einen Rucksackreise durch Chile planen; etc.
Es können ganz generell als Beispiel folgende Auffälligkeiten in unterschiedlicher Ausprägung vorkommen:
Unaufmerksamkeit:
Sorgfaltsfehler; Ausdauerprobleme; scheint nicht zuzuhören; schliesst Aufgabe nicht ab; Organisationsprobleme; vermeidet Aufgaben mit langer Aufmerksamkeitsbelastung; verliert Sachen; leicht ablenkbar; vergesslich, etc.
Überaktivität und Impulsivität:
zappelt mit Händen und Füssen; kann nicht lange sitzen bleiben; fühlt sich unruhig; kann nicht leise sein; immer in Bewegung, wie aufgezogen; exzessives Reden; kann nicht abwarten, bis andere ausgesprochen haben; ungeduldig, kann nicht warten; stört andere in ihrer Beschäftigung, etc.
AD(H)S besitzt im Vergleich zu anderen psychischen Störungen eine ausgeprägte genetische Komponente, sprich AD(H)S ist vererbbar. Zudem stehen verschiedene Umweltfaktoren rund um Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit als begünstigende Ursachen zur Diskussion. Da bei AD(H)S viele verschiedene komplexe Funktionen betroffen sind, ist es nicht möglich, AD(H)S an einer einzigen Stelle im Gehirn zu lokalisieren. Schon im Jahr 1937 wurde von Herr Bradley entdeckt, dass sogenannte Stimulanzien, die Symptome von AD(H)S deutlich reduzieren. Diese Stimulanzien wirken direkt auf den Dopamin- und Noradrenalinhaushalt ein. Daraus folgte die Vermutung, dass AD(H)S etwas mit den Neurotransmittern Dopamin und Noradrenalin zu tun hat. Die Dopaminkonzentration normalisiert sich bei AD(H)S-Patientinnen unter Einfluss des Stimulans Methylphenidat, auch bekannt als «Ritalin», des Wirkstoffs, der bis heute als einer der wirksamsten gegen AD(H)S gilt. AD(H)S-Medikamente normalisieren den Dopaminmangel, so dass die oben genannten Symptome über eine bestimmte Zeit merklich geringer werden. Noradrenalin, ein weiterer Neurotransmitter, ist wichtig für Wachheit und Reaktionsbereitschaft. Auf das Noradrenalinsystem Einfluss nehmende Medikamente besitzen eine gewisse Wirksamkeit auf AD(H)S-Symptome. Noch ist aber noch nicht ganz klar, welche Rolle Serotonin einnimmt. Nach dem aktuellen Stand der Forschung kann zumindest von einer indirekten Wirkung von Serotonin auf AD(H)S-Symptome ausgegangen werden.
Dabei können weibliche Sexualhormone zusätzlich eine Rolle spielen, denn anscheinend beeinflusst das weibliche Hormon Östrogen nach aktuellem Stand der Forschung dopamin-abhängige kognitive Funktionen, also auch AD(H)S-Symptome. Erfahrungsberichte weisen darauf hin, dass Sexualhormone zu verschiedenen Zeitpunkten im Leben von Frauen und Mädchen einen Einfluss auf die Ausprägung der Symptome haben.
Neben all den Schwierigkeiten und Probleme, die ein AD(H)S-Spektrum mit sich bringen kann, gibt es aber auch viele Chancen und Möglichkeiten. Im Folgenden eine kurze Gegenüberstellung, die zu einem Perspektivenwechsel anregen soll:
Schattenseiten:
Sprunghafter Fokus, Desorganisiertheit; innere Unruhe; Impulsivität; Hyperaktivität; Unterstimulation; Ungeduld; Ablenkbarkeit bei mangelndem Interesse; Aufmerksamkeitsdefizit; etc.
Sonnenseiten:
Vernetztes Denken, Kreativität, Fantasie, viele Ideen, Begeisterungsfähigkeit, Lebendigkeit; Energie, Produktivität, Unternehmensfreude; rasche Auffassungsgabe, Spontanität, Hilfsbereitschaft, genau den einen Moment nutzen, Schnelligkeit, Begeisterungsfähigkeit, Lebendigkeit; Energie, Risikobereitschaft, Reaktionsschnelligkeit; Offenheit für Neues, vielseitige Interessen, Neugierde; hohe Produktivität, rasches Tempo, energetische Herangehensweise; Hyperfokussierung bei Interesse, Begeisterung, breiter Aufmerksamkeitsfokus; Neugier, wechselnder Fokus, genaue Langeweiledetektion; etc.
In diesem Sinn steht und fällt der Umgang und die Bewertung der (eigenen) Situation mit der individuellen Bewusstheit (Diagnose) über das vorhandene AD(H)S-Spektrum und den behindernden oder fördernden Symptomen, der Betrachtung der derzeitigen (veränderten) Ausgangslage, der individuellen Entstehungs-, Leidens- aber auch Erfolgsgeschichte und den daraus erfolgten Bewältigungs- und Copingstrategien, welche bereits (bewusst oder unbewusst) entwickelt wurden oder noch entwickelt werden können, um die derzeitige Situation und das Erleben im beruflichen und privaten Alltag angenehmer und erfolgreicher zu gestalten.
Das ist aus meiner Sicht das übergeordnete Ziel eines erfolgreichen Umgangs mit einem AD(H)S-Spektrum – bei Kindern und Erwachsenen. AD(H)S muss in diesem Sinne keine (Be-) Hinderung im Leben darstellen, sondern kann als Individualität und Herausforderung auch als Chance und Bereicherung gesehen und erlebt werden.
(Quelle: Die Welt der Frauen und Mädchen mit AD(H)S; Beltz- Verlag; 2022; Carl, Ditrich, Koentges, & Matthies)