Missverständnisse, Hyperfokussierung & Selbstwert
„Die Bezeichnung „Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung“ ist missverständlich.
• Die beiden bestimmenden Merkmale sind nicht immer die wichtigsten, wohl aber die auffälligsten Symptombereiche.
• Der Name impliziert zu Unrecht ein Defizit der Aufmerksamkeitsfähigkeit. Bei gegebenem Interesse können sich ADHS-Betroffene jedoch überdurchschnittlich konzentrieren. Das zeigt das bekannte Phänomen des Hyperfokussierens, dem die Menschheit herausragende Leistungen verdankt, und das zugleich die Absenz eines grundsätzlichen Defizits der Fähigkeit illustriert (im Unterschied zum Aufmerksamkeitsdefizit z.B. bei unfallbedingten Frontalhirnsyndrom).“ (1)
„Neurobiologisch stehen bei ADHS in bestimmten Bahnen und Zentren zu wenig Dopamin und Noradrenalin zur Verfügung. Dopamin unterdrückt dabei irrelevante Reize, während Noradrenalin relevante Reize verstärkt. Die betroffenen Bereiche regeln die Aufnahme von Informationen, die Mobilisation gespeicherter Daten sowie deren Verarbeitung. Die hauptsächlichen Defizite liegen bei der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen.„ (2)
Ein wichtiges Thema bei ADHS ist der Selbstwert.
„ADHS-ler sind manchmal sehr schnell und kreativ, in anderen Situationen fallen sie massiv ab. Zusammengefasst:
In gewissen Situationen „top“, in anderen „flop“
Erleben sich subjektiv als „Wackelkontakt“. Wird der logisch nachvollziehbare Grund dafür nicht erkannt, drängt sich der Schluss auf „ich bin wenig wert“.
Je intelligenter (u.a. wegen grösserem Unterschied „top-flop“), desto eher wird dieser scheinbar logische, aber falsche Schluss gezogen. Es folgen quälende Selbstzweifel, trotz auch allfällig gegebener Spitzenleistungen.
Dieser pathogenetische Ablauf mit der teilweise daraus resultierenden Selbstwertproblematik gehört zur „Grundausstattung“ der ADHS. Oft werden Selbstzweifel unter einer betont sicheren Haltung versteckt und sind als Symptom kaum sichtbar. Trotzdem sind die daraus folgenden Probleme meist verheerender als andere, auffälligere Symptome. Wird der Zusammenhang verstanden, können Fehlinterpretationen oft erstaunlich schnell gelöst werden, und zu angemessenem Selbstbewusstsein führen.“ (2)
„Bei reduzierter Steuerung fliesst die Energie automatisch dorthin, wo es spannend ist. So kann bekanntlich nicht nur die hohe Abklenkbarkeit bei ADHS modellhaft erklärt werden, sondern auch das kreative Phänomen des positiven Hyperfokussierens mit überdurchschnittlicher Konzentrationsfähigkeit. Letzteres vermag die Selbstwahrnehmung durchaus zu stärken. Ungünstig ist dagegen die Tatsache, dass Hyperfokussieren auch bei negativen Reizen auftreten kann.
Zieht ein negativer Reiz, z.B. Kritik oder Enttäuschung, die Wahrnehmung auf sich, engt sich bei reduziert aktiver Steuerungszentrale die Aufmerksamkeit übermässig darauf ein. Es entsteht ein negativer Hyperfokus. Verheerend ist, dass das eingeengte Feld subjektiv als Ganzes empfunden wird, und innerhalb dieses Fokus Gedanken und Assoziationen ungebremst ausufern:
• Verstärkung (Radikalisierung) der situationsbezogenen Einschätzung, Gefühle und Impulse (quantitative Verstärkung)
• Inhaltliche Veränderung möglich, wenn nur noch ein Teil der Lage wahrgenommen wird (qualitativ-inhaltliche Verzerrung).
Folglich nimmt im negativen Hyperfokus der Betroffene auch nicht mehr seine gesamte Persönlichkeit mit allen dazugehörigen Eigenschaften und Potenzen wahr. Der entsprechende Wert fällt quasi auf der Waage nicht mehr ins Gewicht, die kleinste reale oder vermutete Kritik (bzw. eigene Zweifel) kippt das Werteverhältnis.
Ist ein ADHS-Betroffener in einem negativen Hyperfokus gefangen, bleiben subjektiv nur zwei Möglichkeiten:
• „Verteidigung bis aufs Blut“ (kritikunfähig) mit der Vorstellung: Nur Entkräftung der Kritik garantiert Eigenwert.
• Hinnahme der Kritik – Das bedeutet im vollständig negativen Hyperfokus „keinen Wert“ (der wohl schlimmst mögliche Zustand). Sofortige Depressivität bis hin zu Suizidalität können resultieren.
Ein negativer Hyperfokus kann unzählige Male pro Tag ausgelöst werden, in unterschiedlichem Ausmass. Die Belastung ist gross, vom Energieverschleiss her und punkto Wertwahrnehmung bzw. Verunsicherung. Jedesmal werden quälende Selbstzweifel mobilisiert. Zudem bergen diese Situationen stets das Risiko impulsiv-eskalierender Konflikte. Im Hyperfokus sind nicht nur die situativ bedingten Gefühle verstärkt, sondern ebenso die entsprechenden Impulse. Aufgrund reduzierter Hemmmechanismen wird leicht ein impulsives Verhalten ausgelöst.“
„Der schnelle – und schnell auslösbare – Wechsel zwischen positiven und negativen Hyperfoci bedingt die bei AHDS bekannten starken Stimmungsschwankungen (cave Verwechselung mit bipolaren und Borderline-Störungen).“ (3)
„Letztlich ist es für jeden Patienten entscheidend, ob er diese Abläufe bei sich versteht und lernt, selbst damit umzugehen.“ (4)
Referenzen:
(1) Lachenmeier, H. (2014). Selbstwahrnehmung bei ADHS Erwachsener. Swiss Archives of Neurology and Psychiatry, 47-53.
(2) Lachenmeier, H. (2014). Selbstwahrnehmung bei ADHS Erwachsener. Swiss Archives of Neurology and Psychiatry, 48.
(3) Lachenmeier, H. (2014). Selbstwahrnehmung bei ADHS Erwachsener. Swiss Archives of Neurology and Psychiatry, 49-50.
(4) Lachenmeier, H. (2014). Selbstwahrnehmung bei ADHS Erwachsener. Swiss Archives of Neurology and Psychiatry, 53.
Hinweis:
Der folgende Beitrag ist ein Zusammenzug aus dem gleichnamigen Buch (2007) von Doris Ryffel-Rawak. In Teil I finden sich Informationen zu Merkmalen & Ursachen. In Teil II geht es um Diagnose & Therapie. In Teil III folgt eine spannende Ergänzung aus einem Artikel (2014) von Hainer Lachenmeier, welcher sich zu Missverständnissen, Hyperfokussierung & Selbstwert bei Menschen mit ADHS äussert.