Unter Narzissmus wird im Allgemeinen das Sich-selbst-Gefallen, das In-sich-selbst-Verliebtsein, die Selbstverliebtheit in das eigene Spiegelbild verstanden. Das hat mit einer narzisstischen Störung zuerst einmal noch nichts zu tun. Denn eines der Grundbedürfnisse jedes Menschen ist die Erhöhung seines Selbstwertes, indem er nach Bestätigung, Anerkennung und Geliebtwerden strebt. Ein so genannter Narzissmus geht mit einem stabilen Selbstwertgefühl einher, der Mensch kennt seine Stärken, akzeptiert jedoch auch seine Schwächen, er ist sich seiner selbst bewusst, weiss, was er braucht und will, und hat die Möglichkeiten, sich das zu erfüllen. Er kennt Wege, sich die nötige Anerkennung zu verschaffen und seinen Selbstwert aufrechtzuerhalten. Eine narzisstische Störung zeichnet sich demgegenüber durch die Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls aus und ist mit einer Entfremdung von sich selbst verbunden. Das heisst, der Betroffene hat seine Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse zugunsten einer Fassade aus Selbstsicherheit, Leistung, Perfektionismus, Attraktivität und scheinbarer Unabhängigkeit aufgegeben. Er versucht, ein Ideal von sich zu erfüllen, das ihm genau vorschreibt, wie er zu sein hat: dynamisch, lebendig, fehlerlos, nicht traurig, unendlich leistungsfähig, schlank, immer «gut drauf», keine Schwäche zeigend, sich keine Ruhe gönnend, ja er muss besser und schöner sein als alle anderen, einfach einzigartig.

Die Triebfeder für das Erreichen dieses Ideals sind starke Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle, die durch die perfekte Fassade ausgeglichen werden sollen. Das Gefühl, nicht gut genug zu sein, führt zu ermüdlicher Strebsamkeit und dem Druck, keine Fehler machen zu dürfen. Die Angst, hässlich zu sein, zwingt zum Dünnwerden bis zum körperlichen Ruin in Magersucht und Bulimie. Die Befürchtung, nicht richtig zu sein, erzwingt die Anpassung an die Erwartungen der anderen. Im Grunde geht immer darum, unter allen Umständen die Minderwertigkeit zu verstecken und die Grandiosität, die perfekte Fassade zu erhalten. Neveille Symington fasst dies so zusammen: «Narzissmus ist die schnelle Droge. IN der narzisstischen Situation kann ich alles verstecken, was für mein Selbstbild unangenehm ist».

Sicherlich ist Narzissmus keine Droge im herkömmlichen Sinn. Aber ebenso wie Drogen und andere Suchtmittel den Versuch darstellen, die unangenehme Wirklichkeit auszublenden und sie durch eine beschönigte zu ersetzen, gibt auch die narzisstische Fassade die Möglichkeit, die ungeliebten, mangelhaften Seiten seiner selbst zu überspielen. Nicht ohne Grund ist eine Suchterkrankung in der Regel mit einer narzisstischen Störung verbunden.

Aber nicht nur die Minderwertigkeit wird versteckt, es wird auch der lebendige Teil des Selbst, der «Lebensspender» abgespalten. Dadurch sind Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse ebenso wenig zugänglich wie das Erleben von Identität im Sinne von «Die/der bin ich.» und das Grundgefühl, auf dieser Welt einen Platz zu haben und willkommen zu sein. (1)

Narzisstische Persönlichkeitsmodell (B. Wardetzki):

Die Grandiosität soll vor der Minderwertigkeit schützen und beide werden eingesetzt, wenn das „wahre Selbst“ nicht gelebt werden darf. Nazisstische Menschen identifizieren sich im Laufe der Zeit immer mit ihrem „falschen Selbst“ und halten das für ihre Person. Wichtig ist nicht das, was sie wollen und fühlen („wahres Selbst“), sonder das, was sie darstellen müssen (grandioses Ideal), und das, was sie unter allen Umständen verbergen wollen (Minderwertigkeit).

Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstruktur haben es daher sehr schwer, sich so einzuschätzen, wie sie sind, und sich nicht ständig als schlecht oder übermässig toll zu bewerten. Dass sie dadurch besonders anfällig für Kränkungen sind, ist verständlich.

Denn sie sind wie Bäume, denen das feste Wurzelwerk fehlt, auf das sie sich verlassen können und das ihnen Standfestigkeit und Halt im Leben gibt. Sie sind sehr hoch gewachsen und haben ein prächtiges Laubwerk, jedoch einen schwachen Stamm mit verkümmerten Wurzeln. Sie legen alle Kraft ins Wachstum ihres Astwerkes, da sie irrtümlicherweise davon ausgehen, dass es ihnen umso mehr Sicherheit verschafft, je dichter es ist. In Wirklichkeit jedoch wächst die Unsicherheit, da die tragende Basis fehlt. Jeder Wind, jeder Sturm rührt an dieser Unsicherheit und droht den Baum umzustürzen. Jede Kritik, Zurückweisung oder Ablehnung ruft ein tiefes Gefühl von Verunsicherung und Kränkung hervor.

Den Wurzeln entspricht beim Menschen die Befriedigung seiner grundlegenden narzisstischen Bedürfnisse nach Sicherheit, Wertschätzung, Respekt, Annahme und Bedeutung. Werden sie in frühen Jahren nicht angemessen berücksichtigt und erfüllt, so fehlen dem Kind die Voraussetzungen für eine ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung. Statt sich in der Welt und bei Menschen aufgehoben zu fühlen, wird es Angst haben, statt Selbstachtung zu entwickeln, wird es an sich zweifeln oder sich sogar verachten, statt Annahme erwartet es Ablehnung und statt nährender Beziehungen sucht es Sättigung in Ersatzhandlungen. Anerkennung wird es sich auf unterschiedliche Weise versuchen zu holen, da kein Mensch ohne sie auskommt. Eine Möglichkeit ist, sich den äusseren Erwartungen anzupassen und so zu werden, wie die anderes es haben wollen. (1)

Literatur:

(1) Wardetzki, B. (2000). Ohrfeige für die Seele – Wie wir mit Kränkungen und Zurückweisungen besser umgehen können. München: Kösel-Verlag GmbH & Co: 32-35

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