Sich selbst vertrauen ist eine Entscheidung. Aber nicht nur. Denn von Kindesbeinen sind wir darauf angewiesen, dass unsere Umwelt uns unterstützt und lehrt, was es heisst, sich selbst zu vertrauen. Wenn dieser Lernprozess nicht stattfinden kann, das Vertrauen in sich und die Umwelt nicht wachsen kann, dann ist es schwer, sich selbst zu vertrauen.
Charles Pépin beschreibt in seinem Buch zum Thema: «Selbstvertrauen kommt zuerst von den anderen. Diese Aussage scheint paradox, ist es aber nicht. Ein Neugeborenes ist ein fragiles, vollkommen abhängiges Wesen. In den ersten Monaten kann es unmöglich allein überleben. Dass es überlebt, ist für sich genommen schon der Beweis dafür, dass andere Menschen sich seiner angenommen haben. Mithin ist Vertrauen in sich selbst zuerst ein Vertrauen in sie: Selbstvertrauen ist zuerst Vertrauen in die anderen.»[1] «Nach und nach fasst ein Kind Vertrauen in sich selbst dank der Beziehungen, die es zu anderen Menschen aufbaut, dank der Fürsorge, die sie ihm angedeihen lassen, der Aufmerksamkeit, die es erfährt, und der bedingungslosen Liebe, die durch nichts bedingt ist, weder durch das, was es in Angriff nimmt, noch durch das, was ihm gelingt: Es wird geliebt für das was es ist und nicht für das was es tut.»[2]
Aber wir können diese innere Stärke und Kraft neu aufbauen und stärken, auch im Erwachsenenalter. Dafür ist es nie zu spät. Und manchmal, ja manchmal, werden wir von Krisen und unerwarteten Ereignissen sogar dazu gezwungen. Dann, wenn es keinen anderen (Aus-) Weg gibt, als sich selbst zu vertrauen.
Oft suchen wir Antworten im Aussen, weil unsere Gedanken uns verunsichern und wir nicht wissen, wo es lang geht und wie unsere nächsten Entscheidungen aussehen sollen. Das (Vor-) Wissen in sich schlummert aber schon längst in uns. Wir wollen es manchmal einfach nicht wahrhaben, weil wir Angst vor Veränderung haben. Oder weil wir so abgelenkt sind von unseren Gedanken, dem Abwägen, dass wir nicht auf unser innerstes Wissen hören, nicht danach Ausschau halten. Aber es ist immer da, wenn wir uns die Ruhe und Zeit nehmen hinzuhören und darauf zu achten.
In einer Krise zeigt sich urplötzlich, dass wir diese Kapazität schon längst in uns tragen. Wir funktionieren scheinbar einfach, können Wichtiges von Unwichtigem trennen und treffen Entscheidungen, intuitiv von innen heraus, weil die Situation es von uns fordert. Diese Kapazität ist in uns, zu jeder Zeit. Aber wie schaffen wir es, diese auch in anderen Situationen in unserem Leben zu mobilisieren und für unsere Entscheidungen und im Leben ganz allgemein zu nutzen?
Dafür braucht es zum einen das Anerkennen, dass vieles Ungewiss ist und bleibt, und wir trotz allem gehalten sind von einem grösseren Ganzen.
Charles Pépin beschreibt es so: «Entscheiden bedeutet, die Kraft zu finden, sich ins Ungewisse zu begeben: es hinbekommen, sich im Zweifel und allen Zweifeln zum Trotz aufzumachen. Es bedeutet, das Fehlen unumstösslicher Argumente beiseite zu schieben durch die Fähigkeit, auf sich zu hören, oder einfach einen Entschluss zu fassen, um sich aus der Erstarrung zu lösen und wieder in Bewegung zu kommen. In beiden Fällen geht es um Selbstvertrauen. Der Sprung ins Ungewisse ist nicht leicht: Wir müssen es «auf uns nehmen» und die Bereitschaft mitbringen, für unvorhersehbare Folgen einzustehen. Genau das macht Entscheidungen aus. Sie zwingen uns, auch ohne die Hilfe unumstösslicher Argumente eine Wahl zu treffen. Nicht blindlings, aber auch nicht vollkommen klarsichtig.
Diese Schwierigkeit ist die Schwierigkeit des Lebens selbst. Weil wir freie Wesen sind, weil wir keine programmierten Maschinen sind, müssen wir akzeptieren, dass es einen gewissen, nicht reduzierbaren Anteil an Ungewissheit gibt. Vermutlich müssen wir sogar mehr als das: es schaffen, diese zu lieben.»[3]
Ergreifen wir die Entschlusskraft, die wir besitzen, nicht voll und ganz, bleibt unser Leben eine Abfolge von Nicht-Entscheidungen; es zerrinnt uns in den Fingern und reisst unser Vertrauen mit sich hinweg. Es gibt kein Selbstvertrauen ohne die schwierige Kunst des Entscheidens, die es zu beherrschen gilt.»[4]
«Jedes Mal, wenn wir eine Entscheidung treffen, merken wird, wie sehr unser Selbstvertrauen zugleich Vertrauen in das Leben ist.»[5]
«Vertrauen in das Leben zu haben bedeutet, jener schöpferischen Kraft zu vertrauen, die den Drang hat, in uns zum Ausdruck zu kommen, und Hindernisse zum Vorwand nimmt, um uns ihr ganzes Ausmass vor Augen zu führen.»[6]
«Echtes Vertrauen verlangt von uns, dass wir Dinge beherrschen, aber auch, dass wir uns den Dingen hingeben, die sich uns entziehen, die grösser sind als wir selbst und die wir, in Ermangelung eines Besseren, Kosmos, Gott oder Leben nennen.[7]
«Selbstvertrauen ist nicht gleichbedeutend mit Selbstsicherheit. Wer sich selbst vertraut, findet den Mut, sich dem Ungewissen zu stellen, statt vor ihm zu fliehen. Der findet im Zweifel, in Tuchfühlung mit ihm, die Kraft sich aufzuschwingen.»[8]
Mit der Zeit, mit den Erfahrungen im Leben, mit dem aktiv werden und etwas bewirken, können wir die Erfolge unserer Entscheidungen und Handlungen erkennen, daran wachsen und uns und dem Leben selbst mehr und mehr selbst vertrauen.
Dies ist Freiheit, welche für jeden Menschen zu erreichen ist. Eine wertvolle Freiheit, die es bewusst wahrzunehmen, anzuerkennen und wertzuschätzen gilt! Dies trägt unweigerlich zur eigenen Autonomie und zum Glücklichsein bei.
Charles Pépin beschreibt es so: «Der eigenen Intuition zu vertrauen, und lernen, auf sich zu hören, bedeutet schlicht, frei zu sein. … Wir machen uns oft falsche Vorstellungen von Freiheit: Wir reduzieren sie auf die vollkommende Abwesenheit von Zwängen. Da unsere Existenz aber von Zwängen durchzogen ist, folgern wir daraus, dass wir nicht frei sind. Freiheit hat indes nichts mit der Abwesenheit von Zwängen zu tun. Wie Henri Bergson sinngemäss formuliert: Wir sind frei, wenn wir ganz und gar wir selbst sind, wenn es uns gelingt, unsere Vergangenheit als Ganzes, unser Erlebtes im jetzigen Augenblick anzunehmen.»[9]
«Folglich können wir unmöglich frei sein, wenn wir unsere eigene Geschichte neu schreiben und dabei die dunklen Seiten ausklammern in dem Bemühen, das Glas halb voll zu sehen. Wir können andererseits unmöglich frei sein, wenn wir uns in einem fortwährenden mea culpa ständig selbst die Schuld geben und das Glas immer nur halb leer sehen. Beides offenbart gleichermassen einen Mangel an Selbstvertrauen.»[10]
«Selbstvertrauen muss Vertrauen in das eigene ganze Selbst sein. … Dieses Selbst ist vielfältig, widersprüchlich, wandelbar: Erst wenn wir es als solches annehmen, erkenne wir das Ausmass unserer Freiheit. Dann gibt es kein Halten mehr: Wir unterwerfen uns nicht mehr, weder Teilen von uns selbst, die uns von innen tyrannisiert haben, noch Wahrheiten, die vom Himmel gefallen sind und sich uns von aussen aufgedrängt haben. Wir sind auf zweierlei Wiese befreit: Endlich vertrauen wir uns selbst.»[11]
Besonders gefällt mir das Bild von Emerson, auf den Charles Pépin in seinem Buch verweist:
«Der Mensch sollte sich selbst bemühen, den Lichtstrahl, der aus seinem eigenen Inneren durch seine Seele flammt, zu entdecken und zu beachten. Ralph Waldo Emerson»[12]
«Diese Fähigkeit des «Auf-sich-Hörens» tragen wir bereits in uns, wir müssen sie nicht ausserordentlich gut entwickeln. Es geht vielmehr darum, alle Teile unserer selbst zu Wort kommen zu lassen: Verstand und Gefühl, Bewusstsein und Unterbewusstsein.»[13]
«Wenn wir etwas als recht, als wahr erkennen, dann handeln nicht wir, sondern wir gewähren nur seinen Strahlen den Durchgang», schreibt Emerson.»[14]
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Freude beim Finde und Explorieren Ihrer Strahlen und der Fähigkeit, sich mehr und mehr selbst zu vertrauen!
Referenzen:
[1] Pépin, C. (2018). Sich selbst vertrauen – eine kleine Philosophie der Zuversicht. München: Carl Auer Verlag: 17.
[2] Pépin, C. (2018). Sich selbst vertrauen – eine kleine Philosophie der Zuversicht. München: Carl Auer Verlag: 18.
[3] Pépin, C. (2018). Sich selbst vertrauen – eine kleine Philosophie der Zuversicht. München: Carl Auer Verlag: 98-99.
[4] Pépin, C. (2018). Sich selbst vertrauen – eine kleine Philosophie der Zuversicht. München: Carl Auer Verlag: 100.
[5] Pépin, C. (2018). Sich selbst vertrauen – eine kleine Philosophie der Zuversicht. München: Carl Auer Verlag: 111.
[6] Pépin, C. (2018). Sich selbst vertrauen – eine kleine Philosophie der Zuversicht. München: Carl Auer Verlag: 176.
[7] Pépin, C. (2018). Sich selbst vertrauen – eine kleine Philosophie der Zuversicht. München: Carl Auer Verlag: 179.
[8] Pépin, C. (2018). Sich selbst vertrauen – eine kleine Philosophie der Zuversicht. München: Carl Auer Verlag: 198.
[9] Pépin, C. (2018). Sich selbst vertrauen – eine kleine Philosophie der Zuversicht. München: Carl Auer Verlag: 75-76.
[10] Pépin, C. (2018). Sich selbst vertrauen – eine kleine Philosophie der Zuversicht. München: Carl Auer Verlag: 76.
[11] Pépin, C. (2018). Sich selbst vertrauen – eine kleine Philosophie der Zuversicht. München: Carl Auer Verlag: 77.
[12] Pépin, C. (2018). Sich selbst vertrauen – eine kleine Philosophie der Zuversicht. München: Carl Auer Verlag: 61.
[13] Pépin, C. (2018). Sich selbst vertrauen – eine kleine Philosophie der Zuversicht. München: Carl Auer Verlag: 63.
[14] Pépin, C. (2018). Sich selbst vertrauen – eine kleine Philosophie der Zuversicht. München: Carl Auer Verlag: 175.
Hinweis:
Dieser Beitrag besteht aus zwei Teilen. Sie finden direkten Zugang via folgendem Link:
Sich selbst vertrauen – Teil I
Sich selbst vertrauen – Teil II